Der ENGEL der MENSCHEN
Es war das Land der Engel und Feen und dies war der Tag der Engelweihe. Der Tag, an dem die kleinen Engel ihre Flügel bekommen sollten.
Wie alle kleinen Engelkinder musste auch Marcel zunächst drei Jahre in die Engel-Grundschule gehen. Denn Engelkinder erhielten ihre Flügel nicht schon bei ihrer Geburt, wie man vielleicht meinen könnte. Engelkinder waren den Menschen äußerlich zunächst recht ähnlich. Sie spielten miteinander, tobten und heckten mitunter auch mancherlei Streiche aus.
Doch in ihrer Engelschule, lernten sie alles, was sie später zu einem richtigen Engel benötigen würden.Das Land der Engel lag inmitten der menschlichen Länder auf der Erde, obwohl es für die Menschen nicht sichtbar war. Marcel lebte in einer kleinen Engelstadt, die sehr ruhig zwischen Wäldern und Feldern gelegen war. Seine kleine Stadt hatte eine Schule für die Kinder, eine heilige Stätte, an der man sich zu Feierlichkeiten traf und um Gott zu ehren. Sie hatte auch einen Marktplatz und verschiedene Geschäfte – was man halt so brauchte. Eigentlich war sie den menschlichen Städten sehr ähnlich. Eine dicke Wand aus weißem Nebel umgab ringsherum die Stadt der Engel. So war es den Menschen nicht möglich, in die Stadt der Engel zu gelangen, ohne sich hoffnungslos zu verirren. Auch konnten die Menschen so auch die Stadt der Engel nicht sehen. Den kleinen Engeln, die noch nicht ihre Flügel hatten, war es strengstens untersagt, in die Stadt der Menschen zu gehen. Auch wenn Engel von Natur aus nicht sichtbar sind für die Menschen, so war die Angst der älteren Engel doch zu groß, dass die Kleinen das Leben der Menschen noch nicht verstehen würden.
An diesem Tag also hatte auch Marcel die dritte Klasse absolviert. Alle Engeleltern freuten sich stolz auf diesen feierlichen Anlass. Ein großes Fest für den Abend wurde vorbereitet, an dem man gemeinsam, nach der Zeremonie, feiern würde.
Und so trafen alle am frühen Nachmittag in der heiligen Stätte zusammen, um der Engelweihe beizuwohnen. Die Engelkinder saßen in den vorderen Reihen der Sitzbänke gemeinsam mit ihren Lehrern. Die Eltern, Freunde und Angehörigen nahmen in den hinteren Reihen Platz.
Der weise Engelälteste eröffnete die Zeremonie und andächtig lauschten alle Anwesenden seinen Worten und dem Gesang der Chöre. Dann enthüllte der Engelälteste für die diesjährige Engelweihe die heilige Glocke. Dies war eine sehr große goldene Glocke, die einen besonders schönen hellen Klang besaß und nur zur Weihung benutzt wurde.
Der erste Engelschüler wurde aufgerufen und nach vorne zum Engelältesten gebeten. Der rothaarige Patrick schritt nervös und unsicher voran. Der weise Älteste murmelte einige Worte zu ihm und hob seine Hand dabei über das Haupt des Kindes. Dann ließ ein Engelhelfer die heilige Glocke einmal ertönen. Alle Zuschauer hielten vor Spannung fast den Atem an. Das wunderbare geschah und dem kleinen Patrick wuchsen in Windeseile ein ebenso kleines Paar reinweißer Flügelchen. Nun hatte er seine Flügel erhalten!
So ging es einer nach dem anderen weiter. Und jedesmal schlich ein Hauch feierlicher, höchster Anmut durch die heilige Stätte, wenn die Engelglocke erklang. Endlich war auch Marcel an der Reihe. Sicheren Schrittes ging er zum Engelältesten, denn er hatte ja nun gesehen, was geschehen würde und brauchte keine Angst mehr zu haben. Auch murmelte der Weise ihm einige Worte zu und legte dabei seine Hand sanft über Marcels Haupt. Die Engelglocke läutete.
Doch: Nichts geschah!
Ein staunendes Geflüster ging durch die Menge und der ungläubige Schrecken stand Marcel ins Gesicht geschrieben.
Ja, es war wohl früher schon vorgekommen, dass ein Engel seine Flügel nicht gleich bekommen hatte, aber dies war schon so lange her, dass sich niemand so recht daran erinnerte. Der Engelälteste strich Marcel tröstend über die Wange. Er würde nun bis zum nächsten Jahr warten müssen.
Marcel wartete. Tapfer bemühte er sich, seine Enttäuschung beiseite zu schieben. Im Engelunterricht passte er noch mehr auf, obwohl er schon sehr gut im Unterricht gewesen war, und er lernte noch fleißiger. Während Patrick und die anderen Engelkinder im Sportunterricht ihre ersten noch flatterhaften Flüge lernten, zeichnete Marcel Skizzen von allen Lufbewegungen, um sich alles theoretisch merken zu können. Er war sich sicher, seine Flügel zu bekommen und spätestens im nächsten Jahr wollte er den anderen nicht darin nachstehen durch die Wolken zu jagen.
So verging ein Jahr und der große Tag der Engelweihe war abermals gekommen. Unter den Drittklässlern ragte Marcel nun schon etwas an Größe heraus, doch musste er warten, bis sein Name an der Reihe war und aufgerufen wurde. – Aber, was soll ich berichten? Die heilige Glocke erklang, doch wieder geschah Nichts!
Marcels Enttäuschung war sehr groß! Hatte er sich doch so viel Mühe gegeben. Wieder blieb ihm nur die tröstende Hand des weisen Engelältesten und der Rat nicht den Mut zu verlieren, Gott würde Marcel seinen Weg schon zeigen.
Ebenso, wie das letzte Jahr, verging nun auch das folgende Jahr und leider auch das nächste Jahr und das übernächste Jahr und das darauf folgende Jahr! Marcels Enttäuschung hatte Überhand genommen, er war müde geworden, alles theoretisch aufzuschreiben und verlor allmählich den Glauben daran, jemals noch seine Flügel tatsächlich zu bekommen. Die anderen Engel bemühten sich sehr um ihn. Sie kümmerten sich gar rührend und versuchten Marcel an allem teilhaben zu lassen. Doch mussten auch sie feststellen, dass es sich mitunter schwierig gestaltete. Wollten seine Freunde ihn auf einem Ausflug mitnehmen, so mussten alle zwangsläufig zu Fuß laufen, da Marcel ja keine Flügel besaß. Manche Orte aber waren zu Fuß nicht zu erreichen und so verlor Marcel nach und nach viele seiner Freunde. Er zog sich sehr in sich zurück. Marcel hatte einen Ort gefunden, an dem er gerne seine Zeit verbrachte. Viele Stunden saß er an dem Ufer eines kleinen Sees. Ein Baum spendete ihm im Sommer Schatten und diente ihm als Rückenlehne. Lange Zeit saß er meist nur da, blickte zum weiten Himmel und träumte vor sich hin.
Nur sehr selten kam ein ander Engel in der Ferne vorüber. Dies war nicht verwunderlich, lag sein geheimer Ort doch unmittelbar an der Grenze des Nebels. So nah an die Grenze ging kaum ein Engel und diejenigen, die ihre Stadt verlassen mussten, benutzten die große Tore.
Auch an diesem Tag saß Marcel verträumt an seinem Platz. Es war schon spät am Nachmittag und der Abend rückte deutlich näher. Marcel döste in den letzten Sonnenstrahlen vor sich hin und schlief wohl ein. Es war schon dunkel geworden, als ihn plötzlich ein lauter, schriller Schrei aus den Schlaf riss! Er zuckte zusammen und erschrak. Noch schlaftrunken blickte er unsicher umher, ob er wohl nur geträumt hätte? Doch, da war er wieder: der laute entsetzliche Schrei einer verzweifelten Frauenstimme. Marcel sprang auf. Der Schrei musste aus der Menschenwelt kommen – hinter der Grenze des Nebels! Es durchzuckte seinen ganzen Körper, was sollte er tun? Zu seinen Eltern laufen – oder gar zum Engelältesten, der sicher immer in der heiligen Stätte anzutreffen war? Sollte er zu ihnen rennen, um ihnen davon zu berichten? – Und wieder war da der laute Schrei zu hören! Marcel wusste, warum auch immer die Frau schrie, sie brauchte Hilfe! Und das jetzt gleich, es war keine Zeit zu verlieren!
Aber es war die Grenze des Nebels! Den Engelkindern, die ihre Flügel noch nicht besaßen war es strengstens untersagt durch die weiße Mauer zu gehen. Was würde geschehen, wenn er es doch täte? Konnte er auch wieder zurückkehren? Würde er vielleicht seine Flügel nie mehr erhalten, wenn er ginge?
Marcel wusste die Antworten nicht und eigentlich waren sie ihm auch in diesem Moment egal! Hatte er doch seine Flügel eh nicht bekommen, die ganzen Jahre hindurch. Wieder schallte der markerschütternde Schrei durch die Stille und Marcel schritt, ohne weiteres Nachdenken, durch die Grenze des Nebels.
Nur wenige Schritte und er traute seinen Augen kaum, wie nahe waren ihm die Menschen doch in all der Zeit gewesen! Er stand mitten auf einer schmalen Straße. Es war dunkel, die Laternen brannten der Straße entlang. Doch nicht nur die Laternen brannten! Vor ihm stand ein kleines Wohnhaus: Es brannte lichterloh! Oben am Fenster sah er ein Mädchen stehen, dass ihren kleineren Bruder fest an der Hand hielt. Die beiden standen bereits auf dem Fensterbrett und das Mädchen klammerte sich mit der anderen Hand am Fensterrahmen fest.
Da unten, vor dem Haus, stand sie: die Mutter, die so laut schrie in Panik und Sorge! Immerwieder rief sie ihren Kindern zu, dass sie springen sollten! Die Flammen schlugen bereits aus den Fenstern darunter und das Glas der Scheiben zerbarst in winzige Splitter. Das Mädchen umklammerte weiterhin den Fensterrahmen und ihr kleiner Bruder umklammerte ihr Bein. Doch es war kein Sprungtuch da, wo sie hätten landen können! Noch niemand war da, der hätte helfen können. Und Marcel, er war für die Menschen nicht sichtbar!
Die Mutter schien sich so sicher zu sein, beide Kinder auffangen zu können. Glaubte sie eher an dieses Wunder, als ihre Kinder im Flammentod umkommen sehen zu müssen.
Marcel wusste, sie hatte Recht! Es war die einzige Chance. Und leise hoffte er mit ihr und flüsterte: »Springt!« – Als wenn das Mädchen es gehört hätte: Sie gab sich einen Ruck und sprang mit ihrem Brüderchen in die Tiefe!
Nun, was oder wie es dann geschah, kann ich nicht beschreiben – aber in der Tat das Wunder geschah: Die Mutter fing beide ihrer Kinder wohlbehalten auf! Kaum, dass die Kinder sicher in den Armen ihrer Mutter lagen, kamen von allen Seiten Menschen her- beigelaufen. Auch sie hatten nun die hellen Flammen entdeckt und eilten herbei, um zu helfen. Polizisten kamen, Rettungswagen heulten heran und ein großes rotes Feuerwehrauto bog um die Ecke. Am Fenster des Wagens hing eine große goldene Glocke, die laut und stürmisch von einem Feuerwehrmann geschlagen wurde!
Marcel ging ein, zwei Schritte zurück. Er fühlte sich sonderbar leicht – waren ihm, mit dem Schlag der Glocke, doch seine Flügel gewachsen!
(HY)ZARA 2/2006